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Steve Strange war der Schrittmacher der achtziger Jahre, die bis heute die Popkultur enorm beeinflussen. Sein Leben endete viel zu früh.
Dominik Imseng
6 min
Das Jüngste Gericht fand jeden Dienstag statt, zum ersten Mal am 6.Februar 1979. Ein junger Mann – noch nicht 20 – stand neben dem Eingang eines Nachtklubs im Londoner West End und entschied mit strenger Miene, wer zu den Auserwählten gehörte, die hineindurften, und wer zu den Verdammten, die draussen bleiben mussten. Wobei Letztere in guter Gesellschaft waren. Auch Mick Jagger hatte vergeblich um Einlass gebeten.
Zu gewöhnlich war er angezogen, fand der junge Mann, der an jenem Abend wie der Hohepriester eines okkulten Ordens gekleidet war. Und überhaupt: Wer waren schon die Rolling Stones? Aus dem Nachtklub, über dem in grossen Lettern «Blitz» stand, drangen ganz andere Klänge. Pulsierende. Elektronische. Der DJ legte Platten auf von The Normal, La Düsseldorf oder Gina X. Bands, die statt auf Gitarre, Bass und Schlagzeug lieber auf Synthesizer, Sequenzer und Drum-Computer setzten.
Doch so sehr die Musik im Klub nach Zukunft klang, so sehr sah nach Vergangenheit aus, wer es am Kerberos-gleichen Türsteher vorbeischaffen wollte. Vor allem das 18.Jahrhundert war in der wartenden Menge vertreten, mit Nachtschwärmern, die wie französische Edelmänner, englische Freibeuter oder schottische Freiheitskämpfer aussahen – letztere natürlich im Kilt.
Auch das Berlin der Weimarer Jahre sandte eine Delegation, mit geheimnisvollen jungen Damen, die Anzug, Krawatte und Monokel trugen. Dazwischen sah man Wesen, die nicht nur aus einer anderen Zeit zu stammen schienen, sondern auch aus einer anderen Welt: Draculas Bräute, Untote und sonstige Kinder der Nacht.
Ein weiterer späterer Superstar war an der Garderobe des «Blitz» beschäftigt. Er hiess George O’Dowd und konnte als Einziger Steve Strange an modischer Extravaganz das Wasser reichen. Aus diesem Mann sollte Boy George werden.
Vor ein paar Wochen noch waren alle in der Schlange vor dem Klub Punks gewesen. Jetzt wollten sie nicht mehr mit ihrer Hässlichkeit provozieren, sondern mit ihrer Extravaganz. Wobei das niemand besser tat als der junge Mann, der über das Schicksal der Wartenden entschied. Er kam als Steven Harrington in der Nähe von Cardiff auf die Welt, nannte sich mittlerweile Steve Strange und musste den ganzen Tag vor dem Spiegel gestanden sein, so ausgesucht und ausgefallen waren seine Kleidung, sein Make-up, seine Frisur.
Entsprechend hoch waren die Ansprüche, die Steve Strange an die Erscheinung der Schlange Stehenden stellte. Regelmässig hielt er ihnen einen Spiegel hin und verhöhnte sie mit den Worten: «Schaut euch an – würdet ihr euch hineinlassen?» Das Dumme war: Steve Strange durfte sich wie ein ausgemachtes Scheusal benehmen, denn zusammen mit dem DJ führte er den Klub.
Playlist: Der Sound der 1980er-Jahre
- Visage: Fade to Grey
- Human League: Don’t You Want Me
- Spandau Ballet: Chant No 1 (I Don’t Need This Pressure On)
- ABC: The Look of Love
- Culture Club: Do You Really Want to Hurt Me?
- Eurythmics: Sweet Dreams
- Duran Duran: Girls on Film
- David Bowie: Ashes to Ashes
- Ultravox: Vienna
Zwischen verblichenen Fotos, die London im Zweiten Weltkrieg zeigten, tranken und tanzten dort jeweils ein paar hundert extravagant gekleidete junge Menschen, von denen viele noch keinen Namen hatten, aber schon bald einen bekommen sollten. So zählte etwa der Modestudent John Galliano zu den Stammgästen, der zum Chefdesigner von Dior aufstieg.
Eine gewisse Helen Folasade Adu war ebenfalls oft im «Blitz». Sie fing an zu singen und wurde unter dem Namen Sade zum Weltstar. Regelmässige Gäste waren auch die Mitglieder einer noch unbekannten Band, die Spandau Ballet hiess und bald eine der erfolgreichsten Gruppen der 1980er Jahre wurde.
Im Juli 1980 war plötzlich David Bowie da! Und das mit einem ganz bestimmten Ziel: Er wollte ein paar der Stammgäste aus dem «Blitz» als Komparsen für das Video zu seiner nächsten Single «Ashes to Ashes» rekrutieren.
Ein weiterer späterer Superstar war an der Garderobe des Klubs beschäftigt. Er hiess George O’Dowd und konnte als Einziger Steve Strange an modischer Extravaganz das Wasser reichen. Mal war O’Dowd wie die keltische Kriegskönigin Boudicca gekleidet, mal nahm er die Mäntel der Gäste im Kostüm eines japanischen Kabuki-Darstellers entgegen. Dabei griff der Garderobier regelmässig in Handtaschen, um Geldscheine einzustecken. Wenig später hatte er das nicht mehr nötig. Denn aus George O’Dowd wurde Boy George – der Sänger der erfolgreichen Band Culture Club.
Im Juli 1980 herrschte dann auf einmal grösste Aufregung im Club. Plötzlich stand ein Mann vor Steve Strange, der mit den Kunstfiguren Ziggy Stardust und Aladdin Sane die modische Extravaganz der «Blitz»-Szene genauso vorweggenommen hatte wie ihr Spiel mit wechselnden Identitäten. Tatsächlich: David Bowie war da! Und das mit einem ganz bestimmten Ziel: Er wollte ein paar der Stammgäste aus dem «Blitz» als Komparsen für das Video zu seiner nächsten Single «Ashes to Ashes» rekrutieren.
Ob Steve Strange möglicherweise wüsste, wer dafür geeignet wäre? «Nun … vielleicht fallen mir da tatsächlich ein paar Namen ein», meinte Strange. Und so kam es denn, dass David Bowie wenig später auf einem Filmset im Kostüm eines Pierrots dahinschritt, während ihm Steve Strange in einem bizarren schwarzen Hochzeitskleid folgte, begleitet von nicht weniger exzentrisch gekleideten Freundinnen.
Bowies Single «Ashes to Ashes» wurde im August 1980 veröffentlicht und sorgte dafür, dass die «New Romantics» internationale Bekanntheit erlangten. Zwar schrien die Habitués im «Blitz» auf, als sie erfuhren, mit welchem Etikett die Presse sie bedachte – sie selber nannten sich «The Movement» oder «The Cult of No Name».
In Wahrheit war die Bezeichnung «New Romantics» gar nicht so unpassend, denn die Weltflucht, für die die romantische Bewegung der frühen 1800er Jahre stand, zeichnete auch Steve Strange und seine extravaganten Freunde aus. Das Kontrastprogramm der «New Romantics» zur wirtschaftlichen und sozialen Misere im Grossbritannien der beginnenden 1980er Jahre hätte radikaler nicht sein können.
Wenig später dann ein weiterer Videodreh. Dieses Mal war Steve Strange aber nicht nur Komparse. Jetzt stand er als Sänger der Elektropop-Band Visage vor der Kamera, die mit «Fade to Grey» im November 1980 einen internationalen Hit landete. Überhaupt war Strange in den frühen 1980er Jahren schwer beschäftigt. Er lancierte an diversen Orten weitere Partynächte, bis er schliesslich in einem alten Theater den Klub Camden Palace eröffnete, der zum Epizentrum des Londoner Nachtlebens wurde.
Spätestens jetzt war der Mann, der schon als Teenager Punkkonzerte veranstaltet hatte, zu einem der wichtigsten Schrittmacher der 1980er Jahre geworden. Ja, eigentlich hatte Steve Strange das von Mode und Lifestyle besessene Ich-Jahrzehnt geradezu erfunden. Das Dumme aber war: Mittlerweile genügte ihm nicht mehr Amphetamin, um den doppelten Druck als Pop-Star und Klubbetreiber zu bewältigen. Jetzt musste es Kokain sein. Und nach einem Auftritt bei einer Modenschau für Jean Paul Gaultier kam dann auch noch Heroin hinzu.
Das Buch zur Zeit
688 Seiten «New Romantics»
Wie kreativ und vielfältig die Szene rund um Steve Strange war, schildert ein neues Buch des britischen Autors Dylan Jones, der damals selbst im Blitz-Club verkehrte. «Sweet Dreams» macht klar: Die «New Romantics» beeinflussten nicht nur die Musik- und Modewelt, sondern auch die Medienbranche und die Kunst. Und das weit über London hinaus.
Dylan Jones: Sweet Dreams: From Club Culture to Style Culture, the Story of the New Romantics. Faber & Faber 2020. 688 S., um Fr. 28.–, E-Book 19.–.
Doch der Brite rappelte sich wieder auf, zog nach Ibiza und veranstaltete dort Partys für Prominente. Bis ihn 1997 nach diversen Schicksalsschlägen – so zerstörte etwa ein Feuer seine Wohnung in London – die Heroinsucht einholte. Im April 2000 dann der Tiefpunkt im Leben des Paradiesvogels: Komplett verarmt, wurde Steve Strange dabei erwischt, wie er in einem Geschäft eine Teletubbies-Puppe stahl. Immerhin nicht für sich – er wollte sie seinem Neffen schenken.
Nach dem jahrelangen Drogenmissbrauch gesundheitlich angeschlagen, erlag Steve Strange 2015 einem Herzinfarkt – er wurde nur 55Jahre alt. Boy George und Mitglieder von Spandau Ballet trugen den Sarg des ehemaligen Königs der Poseure. Einer der grossen Momente der Pop-Geschichte. Und der Tag, an dem man die 1980er Jahre begrub. Bleibt zu befürchten, dass seitdem nicht mehr Petrus über die Himmelspforte wacht, sondern Steve Strange. Das Tor zum Paradies würde sich in diesem Fall nur für die wirklich extravagant Gekleideten unter uns öffnen. Für alle anderen hiesse es: «Schaut euch an – würdet ihr euch hineinlassen?»
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